De facto wenn die Partnerschaft mit einem uneheliche Kind ausseinandergeht, erhält automatisch die Mutter das Sorgerecht. Damit der Vater das Sorgerecht für sein Kind erhält, muss er derzeit einen Behörden- und Gerichtsmaraton leisten. Wie jedoch der Bericht vom Herrn Schöbi zu entnehmen ist, sieht die Zukunft andres aus!
Gesetzesvorschlag zur Neuregelung der elterlichen Sorge Felix Schöbi,
Bundesamt für Justiz, Bern
"Nichts ist so mächtig wie eine Idee,
deren Zeit gekommen ist."
Victor Hugo
I. Einleitung
Am 18. März 2005 hat der Nationalrat, nach ungewohnt engagierter Debatte, einem
Postulat Wehrli (04.3250) zugestimmt. Dieses verlangt vom Bundesrat zu prüfen:
− wie die gemeinsame elterliche Sorge bei nicht oder nicht mehr miteinander
verheirateten Eltern gefördert und ob die gemeinsame elterliche Sorge als
Regelfall verwirklicht werden kann; und
− dem Parlament gegebenenfalls Vorschläge für eine Revision der einschlägigen
Bestimmungen des ZGB zu unterbreiten.
Auf dem Weg, diesem Anliegen zu entsprechen, hat der Bundesrat am 28. Januar
2009 den Vorentwurf einer Teilrevision des Schweizerischen Zivilgesetzbuches
(Elterliche Sorge) in der Vernehmlassung geschickt. Das Vernehmlassungsverfahren
dauert noch bis zum 30. April 2009. Daran schliessen sich die Erarbeitung einer
Botschaft und die parlamentarische Beratung an. Die Neuregelung des Sorgerechts
wird somit frühestens anfangs 2012 in Kraft treten können.
Ich werde im Folgenden den Vorentwurf vorstellen. Dabei werde ich
selbstverständlich nicht auf alle Vorschläge eingehen können.
− So werde ich mich beispielsweise nicht mit den zum Glück seltenen Fällen
befassen, dass eine Vaterschaftsklage angestrengt werden muss (Art. 298c und
298d VE-ZGB) oder dass die Mutter den Namen des Vaters partout nicht
bekannt geben will (Art. 309 VE-ZGB). Dabei weiss ich aufgrund erster
Reaktionen auf den Vorentwurf, wie gerade dieser letzte Punkt viele beschäftigt,
nicht nur wegen der selber betroffenen französischen Justizministerin. Nein, vor
allem auch Praktiker sind echt besorgt bei der Vorstellung, dass in Zukunft die
Vormundschaftsbehörde nicht mehr von Amtes wegen dafür zu sorgen hat, dass
ein Kind zu seinem Vater kommt.
− Ferner werde ich auch nicht auf die ähnlich heikle und ebenfalls viele brennend
interessierende Frage des Übergangsrechts eingehen.
− Und schliesslich kommt auch die vorgeschlagene neue Strafandrohung bei
Verweigerung des Besuchsrechts im Folgenden nicht zur Sprache (Art. 220
VE-StGB). Auch diese Frage hat es zwar in sich; sie steht aber eher am Rande
der vorgeschlagenen Neuregelung des Sorgerechts.
Vorausschicken möchte ich ferner, dass heute viel vom Sorgerecht die Rede ist.
Auch ich verwende diese Ausdrucksweise immer wieder. Der Begriff "Sorgerecht" ist
aber ungenau und verkürzend. Bei der elterlichen Sorge geht es nämlich nicht primär
um ein Recht, sondern um eine Pflicht: Die Pflicht der Väter und Mütter, für ihre
Kinder zu sorgen und die dafür nötigen Entscheide zu treffen (Art. 301 ff. ZGB). In
der für einmal einhelligen Lehre spricht man denn auch im Zusammenhang mit dem
Sorgerecht von einem so genannten "Pflichtrecht", und im Ausland ist, wohl genauer,
von responsabilité parentale und von parental responsability die Rede.
Schliesslich noch eine letzte terminologische Vorbemerkung. Ich werde in meinem
Referat von der Vormundschaftsbehörde sprechen. Im Rahmen des neuen
Erwachsenschutzrechts wird dieser Begriff durch jenen der Erwachsenen- bzw.
Kindesschutzbehörde ersetzt. Im Vorentwurf wird bereits dieser Begriff verwendet.
II. Geltendes Recht
Das geltende Recht kennt eine Sorgerechtsregelung, die streng nach dem Zivilstand
der Eltern unterscheidet.
Verheiratete Eltern: Einfach und klar ist die Situation bei verheirateten Eltern. In
diesem Fall steht die elterliche Sorge Vater und Mutter gemeinsam zu (Art. 297 Abs.
1 ZGB). Etwas anderes kommt nicht in Frage. Die Eltern haben so beispielsweise
gar keine Möglichkeit, das Sorgerecht einem Elternteil allein zu überlassen - auch
wenn sie dies beide wollten.
Unverheiratete Eltern: Sind die Eltern unverheiratet, steht das Sorgerecht allein der
Mutter zu (Art. 298 Abs. 1 ZGB). Vorbehalten bleibt der Fall, dass die Mutter
unmündig oder entmündigt ist (Art. 296 Abs. 2 ZGB) oder dass die
vormundschaftliche Aufsichtsbehörde ihr die elterliche Sorge im Rahmen einer
Massnahme zum Schutz des Kindes entzogen hat (Art. 311 ZGB).
Was den Vater betrifft, so hat dieser bloss einen Anspruch auf persönlichen Verkehr
mit dem Kind - meist als Besuchsrecht bezeichnet - sowie auf Information und
Auskunft (Art. 273 Abs. 1 und Art. 275a ZGB).
Die Vormundschaftsbehörde kann das Sorgerecht den Eltern aber auch gemeinsam
übertragen. Voraussetzung dafür ist, dass diese Lösung im Wohl des Kindes liegt
und dass sich die Eltern in einer genehmigungsfähigen Vereinbarung über ihre
Anteile an der Betreuung des Kindes und die Verteilung der Unterhaltskosten
verständigt haben (Art. 298a Abs. 1 ZGB).
Konkret bedeutet dies: Der ledigen Mutter kann das gemeinsame Sorgerecht nicht
aufgezwungen werden, es sei denn, man sehe in der verweigerten Zustimmung
einen Fall von Rechtsmissbrauch (Art. 2 Abs. 2 ZGB). Allerdings ist mir solches noch
nie begegnet.
Geschiedene Eltern: Was die Scheidung betrifft, ist es so, dass das Gericht die
elterliche Sorge grundsätzlich einem Elternteil allein zuweisen muss (Art. 133 Abs. 1
und 2 ZGB). Beim gemeinsamen Sorgerecht bleibt es nur, wenn diese Lösung im
Wohl des Kindes liegt und wenn die Eltern dem Gericht eine Vereinbarung über die
Anteile an der Betreuung des Kindes und die Verteilung der Unterhaltskosten
vorlegen (Art. 133 Abs. 3 ZGB).
Anders als bei ledigen Eltern geniesst die Mutter damit bei der Scheidung de iure
keine Vorrangstellung. De facto sieht die Sache aber anders aus. Die Mutter kann
nämlich damit rechnen, dass das Gericht ihr die alleinige elterliche Sorge zuweist,
wenn sie sich dem gemeinsamen Sorgerecht verweigert.
Die verfügbaren Statistiken sprechen diesbezüglich eine überdeutliche Sprache. Nur
rund fünf Prozent der Kinder stehen heute nach einer Scheidung unter der alleinigen
Sorge des Vaters. Geht man davon aus, dass in den meisten dieser Fälle die Mutter
mit dieser Lösung einverstanden war, sieht man, dass Väter heute praktisch keine
Chance haben, sich in einem Sorgerechtsstreit gegen die Mutter durchzusetzen.
Dies gilt sicher dann, wenn es die Mutter war, die die Kinder bis zur Scheidung
betreut hat oder wenn die Kinder noch klein sind.
III. Vorentwurf
Verheiratete Eltern: Nichts ändert sich mit dem Vorentwurf, was verheiratete Eltern
betrifft. Ihnen steht auch in Zukunft das Sorgerecht von Gesetzes wegen gemeinsam
zu, und eine Verfügung über das Sorgerecht ist nicht vorgesehen (Art. 297 Abs. 1
ZGB).
Mehr oder weniger weit reichende Änderungen ergeben sich hingegen für
unverheiratete und geschiedene Eltern.
Unverheiratete Eltern: Für unverheiratete Eltern gilt nach dem Vorschlag des
Bundesrates die gleiche Lösung wie für verheiratete Eltern, d.h. auch ihnen steht von
Gesetzes wegen das Sorgerecht gemeinsam zu. Einzige Voraussetzung dafür ist,
dass der Vater sein Kind anerkannt hat (Art. 298 Abs. 1 VE-ZGB).
Anders als heute müssen in Zukunft die Eltern der Vormundschaftsbehörde also
keine Vereinbarung mehr vorlegen, in der sie sich zu ihren jeweiligen Anteilen an der
Betreuung und am Unterhalt äussern. Bei Schwierigkeiten können die Eltern diese
Unterstützung aber weiterhin in Anspruch nehmen (Art. 298a Abs. 2 ZGB). Dies
werden sie namentlich dann tun, wenn sie an einer vollstreckbaren Vereinbarung
interessiert sind (Art. 287 ZGB).
Anders als bei verheirateten Eltern lässt der Vorentwurf auch Raum für abweichende
Lösungen. So können sich die Eltern darauf verständigen, das Sorgerecht einem
Elternteil allein zu überlassen (Art. 298b Abs. 1 VE-ZGB). Ein Elternteil kann den
nämlichen Antrag aber auch dem Gericht (Art. 298b Abs. 2 VE-ZGB). In beiden
Fällen muss das alleinige Sorgerecht eines Elternteils im Wohl des Kindes liegen.
Geschiedene Eltern: Auch bei einer Scheidung bleibt es in Zukunft beim
gemeinsamen Sorgerecht (Art. 133 ZGB). Einmal Eltern, immer Eltern!
Beide Elternteile zusammen oder ein Elternteil allein können dem Gericht aber
beantragen, dass das Sorgerecht einem Elternteil allein überlassen wird (Art. 133a
Abs. 1 und 2 VE-ZGB). Dabei sind selbstverständlich auch in Zukunft die Kinder
anzuhören (Art. 144 ZGB), und es gilt die Offizialmaxime (Art. 145 ZGB). Das Gericht
kann sich daher über einen gemeinsamen Antrag der Eltern in Bezug auf das
Sorgerecht hinwegsetzen, wenn es zur Auffassung gelangt, das die beantragte
Lösung nicht im Wohl des Kindes liegt. Allerdings ist mir solches bisher auch erst ein
einziges Mal begegnet.
Nichts ändert sich mit der bundesrätlichen Vorlage im Übrigen bei den
Voraussetzungen für eine Scheidung auf gemeinsames Begehren (Art. 111 Abs. 1
ZGB). Eine solche kommt auch in Zukunft nur dann in Frage, wenn sich die Eltern
vorgängig in Bezug auf ihre Anteile an der Betreuung und den Unterhalt verständigt
haben. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn der Ständerat dem Entscheid des
Nationalrats von letzter Woche folgt und die zweimonatige Bedenkfrist abschafft.
In diesem Zusammenhang schliesslich auch noch ein Wort zur künftigen
Eidgenössischen Zivilprozessordnung, die das Parlament am 19. Dezember 2008
verabschiedet hat und die wohl am 1. Januar 2011 in Kraft treten wird. Sie sieht vor,
dass das Gericht die Eltern zu einem Mediationsversuch auffordern kann (Art. 297
Abs. 2 ZPO). Ein solcher Mediationsversuch scheint mir namentlich dann sinnvoll,
wenn die Eltern bisher keinen Weg gefunden haben, sich in Bezug auf den Unterhalt
und die Kinderbetreuung zu verständigen. Die Kosten einer solchen Mediation gehen
im Übrigen zu Lasten des Staats, wenn die Parteien nicht über die dafür nötigen
Mittel verfügen (Art. 218 ZPO).
Nicht verschwiegen sei, dass diese Lösung gewissen Kreisen viel zu wenig weit
geht. Sie wünschten sich gleichsam eine Umkehrung tradierter Konfliktbewältigung,
d.h. ein System, in dessen Zentrum nicht der richterliche Entscheid, sondern die
Mediation steht. Ich erwähne das Stichwort des Cochemer-Modells.
Zusammenfassend halte ich fest: Die bundesrätliche Vorlage steht auf dem
Grundsatz des gemeinsamen Sorgerechts, und zwar unabhängig vom Zivilstand der
Eltern. Namentlich werden damit die Unterschiede zwischen verheirateten und
unverheirateten Eltern eliminiert. Mit Blick auf die Eltern, die sich scheiden, bleibt es
dabei, dass das Gericht die Sorgerechtsregelung von Amtes wegen auf seine
Vereinbarkeit mit dem Kindeswohl hin überprüfen muss.
IV. Gemeinsames Sorgerecht: Ein Grundsatz mit Ausnahmen
Es ist gezeigt worden, dass in Zukunft das gemeinsame Sorgerecht nach einer
Scheidung die Regel ist; nur noch ausnahmsweise soll das Sorgerecht einem
Elternteil allein überlassen werden. Diese Ausnahme soll gelten, wenn das Gericht
zur Überzeugung gelangt, dass dem Wohl des Kindes durch das alleinige Sorgerecht
eines Elternteils besser gedient ist.
Wann ist dies nun aber konkret der Fall?
Vorweg möchte ich betonen, dass dies wohl die Schlüsselfrage der Vorlage ist. Und
wie immer bei solchen Fragen gehen die Meinungen darüber auseinander, wie sie im
Einzelnen zu beantworten sind, und zwar auch innerhalb der Verwaltung. So können
sich die einen ein gemeinsames Sorgerecht, das einem Elternteil aufgezwungen
wird, praktisch nicht vorstellen. Anderen bereitet diese Vorstellung hingegen keine
Mühe. Zu dieser zweiten Gruppe gehöre auch ich.
Auch für mich besteht aber ein Grund, vom gemeinsamen Sorgerecht abzusehen,
wenn beispielsweise ein Vater Konflikte in der Vergangenheit immer wieder
gewalttätig ausgetragen hat und deshalb zu befürchten ist, dass er dies auch in
Zukunft tun wird. In dieser Situation liegt das gemeinsame Sorgerecht schlicht nicht
im Wohl des Kindes, und kann auch Mutter nicht zugemutet werden.
Das alleinige Sorgerecht scheint mir auch dann die richtige Lösung zu sein, wenn ein
Elternteil im Scheidungsprozess klar zu erkennen gibt, dass er am Sorgerecht gar
nicht interessiert ist bzw. dieses nur zum Zweck einsetzen möchte, seine Ex-Frau
bzw. ihren Ex-Mann später schikanieren zu können. Solchen Machenschaften soll
das Gericht gleich von Beginn weg einen Riegel schieben.
Umgekehrt darf das Gericht nichts aus der frei gewählten Rollenverteilung während
der Ehe ableiten. Die Tatsache, dass die Mutter während der Ehe die Kinder
betreute, gibt ihr deshalb keine irgendwie geartete Vorrangstellung. Noch weniger
vermag das Regime während der Zeit einer allfälligen Trennung ein diesbezügliches
Präjudiz zu schaffen.
Besonders heikel scheint mir der Fall pflichtvergessener Väter oder Mütter zu sein.
Ein Elternteil, der in der Vergangenheit seinen familiären Pflichten nicht
nachgekommen ist, wirkt zugegebenermassen nicht besonders glaubwürdig, wenn er
in der Scheidung plötzlich Interesse am Sorgerecht zeigt. Trotzdem ist hier
Zurückhaltung am Platz. Das gemeinsame Sorgerecht liegt in den Vorstellungen des
Bundesrates im Wohl des Kindes. Es soll deshalb weder als Strafe noch als
Drohkulisse für die Durchsetzung von Anliegen eingesetzt werden, die mit dem Wohl
des Kindes nichts zu tun haben.
V. Obhutsrecht und faktische Obhut
Das gemeinsame Sorgerecht bedeutet, dass die Eltern die nötigen Entscheidungen
in Bezug auf die Pflege und Erziehung des Kindes gemeinsam treffen (Art. 301 Abs.
1 in Verbindung mit Art. 302 und 303 ZGB).
Ich lasse offen, wie häufig in einer intakten Familie dieser Idylle nachgelebt wird.
Sicher ist, dass es mit dieser spätestens mit der Scheidung vorbei ist. Danach ist es
so, dass sich die Kinder teils beim Vater, teils bei der Mutter aufhalten.
Unweigerlich stellt sich deshalb die Frage, ob und welche speziellen Rechte sich für
jenen Elternteil ergeben, in dessen faktischer Obhut sich das Kind jeweils befindet.
Die Antwort, die der Vorentwurf auf diese Frage gibt, ist klar und einfach. Sie lautet:
Dieser Elternteil kann jene Entscheide allein fällen, die die alltäglichen und die
dringenden Angelegenheiten zum Gegenstand haben (Art. 298g VE-ZGB).
Konkret heisst das etwa: Dieser Elternteil entscheidet allein darüber, wie das
Kinderzimmer eingerichtet wird, was das Kind anzieht und was auf den Tisch kommt.
Im Einvernehmen beider Elternteile muss hingegen beispielsweise über die
Berufswahl oder den Beitritt zu einem Sportverein entschieden werden.
Abzusprechen sind auch medizinische Eingriffe, wozu ich beispielsweise auch das
Impfen zählen würde, ausser es gehe um einen Notfall.
Ganz klar nicht zu den dringlichen und alltäglichen Angelegenheiten gehört ein
allfälliger Wohnortswechsel. Dieser muss daher in Absprache der Eltern erfolgen.
Die faktische Obhut (garde de fait) ist also strikte vom Obhutsrecht (droit de garde)
zu unterscheiden. Das Obhutsrecht ist Teil des Sorgerechts, das - auch bei
faktischer Obhut eines Elternteils - immer bei Vater und Mutter verbleibt. Der
Vorentwurf steht damit einer Praxis im Weg, wie wir sie heute hauptsächlich in der
Westschweiz antreffen. Hier wird in Scheidungsurteilen trotz gemeinsamem
Sorgerecht das Obhutsrecht jeweils einem Elternteil allein zugewiesen. Vielleicht
erklärt dies auch, weshalb in der Westschweiz das gemeinsame Sorgerecht stärker
verbreitet ist als in der Deutschschweiz.
Die strikte Unterscheidung von faktischer Obhut einerseits und Obhutsrecht als Teil
des Sorgerechts andererseits ist zentral. Von ihr hängt beispielsweise ab, ob sich ein
Elternteil der Kindsentführung schuldig macht (Art. 220 StGB). Von ihr hängt auch
ab, ob das Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen
Aspekte internationaler Kindesentführungen Anwendung findet.
Ein Kind, das trotz gemeinsamem Sorge- und Obhutsrecht von einem Elternteil
eigenmächtig ins Ausland verbracht worden ist, muss von diesem umgehend in den
Herkunftsstaat zurückgebracht werden. Die Tatsache, dass es sich zur Zeit der
Entführung in der faktischen Obhut des entführenden Elternteils befand, ändert daran
nichts. Dies hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 8. Januar 2009
im Fall Neulinger gegen die Schweiz eindrücklich bestätigt.
Die vom Bundesrat vorgeschlagene Lösung versteht sich im Übrigen nicht als
Schikane und stellt auch nicht die Niederlassungsfreiheit in Frage (Art. 24 BV).
Vielmehr geht es darum, sich bei einem Wohnortswechsel Gedanken darüber zu
machen, wie sich dieser aufs Kind auswirkt. Dabei kann sich beispielsweise zeigen,
dass das Kind die bisherige Schule nicht wechseln müsste, wenn es in Zukunft beim
andern Elternteil leben könnte. Deshalb ist es im Übrigen auch so, dass keineswegs
nicht nur der Wohnortswechsel des Kindes im Einvernehmen erfolgen muss. Das
genau Gleiche gilt auch für einen Wohnortswechsel jenes Elternteils ohne faktische
Obhut. Die gemeinsame elterliche Sorge ist nämlich auch durch seinen
Wohnortswechsel tangiert.
Was gilt nun aber, wenn sich die Eltern nicht verständen können? Meines Erachtens
bleibt ihnen in diesem Fall nur der Gang zum Gericht, dem eine Ergänzung bzw.
Abhänderung des Scheidungsurteils zu beantragen ist (Art. 134b VE-ZGB). Das
Gericht entscheidet dabei, ohne dass es deswegen zwingend zu einer Neuregelung
des Sorgerechts kommen müsste. Bei einem weiteren Wohnortswechsel kann sich
die Sache deshalb auch wiederholen.
Natürlich höre ich an dieser Stelle schon den Aufschrei all jener, die den Richter
erneut, wenn auch etwas verspätet, im Ehebett wähnen. Mehr als Polemik vermag
ich in solcher Kritik allerdings nicht zu erblicken: Wieso soll ein Gericht zwar über
jeden nachbarrechtlichen Streit befinden müssen und können, mit der Frage darüber,
was die beste Lösung zum Wohl des Kindes ist, aber überfordert sein?
Selbstverständlich kann sich ein Elternteil immer auch an die
Vormundschaftsbehörde wenden. Diese hat nun aber nur bei einer Gefährdung des
Kindeswohls einzuschreiten (Art. 307 ff. ZGB). Dabei muss man sich hüten, hinter
jeder Uneinigkeit der Eltern eine Gefährdung des Kindeswohls zu erblicken. So
können sich die Eltern beispielsweise darüber streiten, mit wem bzw. wohin das Kind
in die Ferien geht, ohne dass ein solcher Streit das Kindeswohl in irgendeiner Weise
gefährden würde.
Dass es hier mitunter um heikle Abgrenzungsfragen geht, sei nicht verschwiegen.
Nicht verschwiegen sei auch, dass Eltern in meiner Erfahrung immer wieder versucht
sind, Vormundschaftsbehörden zu instrumentalisieren, wo es in der Sache eigentlich
ums Scheidungsurteil geht. Ein Teil der Verantwortung für diesen Missbrauch der
Vormundschaftsbehörde trägt meines Erachtens auch der Gesetzgeber, dem es in
der Vergangenheit nicht gelungen ist, die Zuständigkeiten von
Vormundschaftsbehörden und Gerichten sauber zu trennen (Art. 134 Abs. 4 und
315b Abs. 2 ZGB). Auch hier erhofft sich der Bundesrat von seiner Vorlage eine
Verbesserung, indem die Zuständigkeit in streitigen Fällen in Zukunft konsequent
beim Gericht angesiedelt ist (Art. 134b VE-ZGB).
VI. Kindeswohlprüfung bei unverheirateten Eltern
Die wohl auffälligste Neuerung des Vorentwurfs betrifft die Situation unverheirateter
Eltern. Während heute in diesem Fall allein die Mutter sorgerechtsberechtigt ist, baut
der Vorentwurf auf dem gemeinsamen Sorgerecht von Mutter und Vater auf. Einzige
Voraussetzung dafür ist, dass er sein Kind anerkannt hat (Art. 298 Abs. 1 VE-ZGB).
Wann diese Anerkennung erfolgt - ob vor oder nach der Geburt - spielt keine Rolle.
Diese Lösung fällt nicht nur im Vergleich mit dem geltenden Recht auf, sondern
auch, wenn wir sie mit der Scheidungssituation vergleichen. Anders als heute sucht
der Vorentwurf keine Annäherung der Rechtsstellung unverheirateter Eltern an die
Rechtsstellung geschiedener Eltern, sondern vielmehr an das Regime, das für
verheiratete Eltern gilt. Entsprechend wird weder bei verheirateten noch bei
unverheirateten Eltern von Amtes wegen geprüft, ob das gemeinsame Sorgerecht
tatsächlich im Wohl des Kindes liegt.
Bei unverheirateten Eltern kommt es zu einer Kindeswohlprüfung nur, wenn ein
Elternteil klagt und dem Gericht beantragt, dass ihm das alleinige Sorgerecht
überlassen wird (Art. 298b Abs. 2 VE-ZGB). Eine zeitliche Befristung der Klage sieht
der Vorentwurf dabei nicht vor. Die Mutter kann also mit der Klage ohne weiteres
auch zuwarten, um im Wissen um die gemachten negativen Erfahrungen einen
erfolgreichen Prozess ums alleinige Sorgerecht anzustrengen.
Ob das Gericht dem Antrag der Klägerin oder des Klägers entspricht, hängt
wiederum davon ab, ob sich aus Gründen des Kindeswohls eine Ausnahme vom
gemeinsamen Sorgerecht aufdrängt. Auch hier sieht der Vorentwurf keine starren
Regeln vor. Entsprechend darf dem Vater das Sorgerecht beispielsweise nicht mit
dem Argument verweigert werden, dass er nicht mit der Mutter zusammenlebt oder
dass es die Mutter ist, die das Kind hauptsächlich betreut.
Welche Überlegung steht hinter der vorgeschlagenen, auf den ersten Blick vielleicht
etwas überraschenden Lösung?
Bei einer Scheidung ist von einem Konflikt auszugehen, in den fast zwangsläufig
auch das Kind involviert ist. Es besteht damit die Gefahr, dass die Parteien das Kind
für ihre meist antagonistischen Zwecke missbrauchen. Hier scheint es dem
Bundesrat wichtig, dass das Gericht auch in Zukunft das Kindeswohl von Amtes
wegen in seine Überlegungen miteinbezieht.
Ganz anders ist die Sachlage hingegen bei unverheirateten Eltern. Hier besteht für
den Bundesrat kein Anlass daran zu zweifeln, dass auch sie sich gemeinsam für das
Wohl des Kindes einsetzen werden. Eine Prüfung des Kindeswohls von Amtes
wegen erübrigt sich deshalb, ja bedeutete bloss eine unnötige und überholte
Misstrauenskundgebung gegenüber unverheirateten Eltern.
Persönlich gehe ich sogar noch einen Schritt weiter, indem ich in einer
Sorgerechtsregelung, die Bezug auf den Zivilstand der Eltern nimmt, eine Verletzung
von Artikel 8 EMRK erblicke. Leider fehlt mir die Zeit, diesen Gedanken zu vertiefen.
So oder so ist der Vorschlag des Bundesrats keineswegs revolutionär, sondern stellt,
genau betrachtet, nichts anderes als die konsequente Fortsetzung einer
Gesetzgebungspolitik dar, die in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts zur
Gleichstellung des unehelichen mit dem ehelichen Kind führte.
Nicht verschwiegen sei dabei, dass sich das Zivilgesetzbuch damit immer weiter von
seinen Ursprüngen entfernt, wonach die Ehe die privilegierte Form der Gemeinschaft
von Eltern und Kind ist. Und nicht verschwiegen sei auch, dass viele sich mit dieser
Entwicklung sehr schwer tun. Dies zeigte sich gerade vor einer Woche wieder, als
der Nationalrat über ein neues Namensrecht diskutierte. Weder er noch der
Bundesrat mochten sich dabei beispieslweise vom tradierten Familiennamen
trennen.
Nur ganz am Rande sei schliesslich auch noch bemerkt, dass der Bundesrat in
seinem Bemühen um eine zivilstandsunabhängige Sorgerechtsregelung keineswegs
auf tutti gegangen ist. So hat er beispielsweise keine Eingriffe in die Systematik
unseres Familienrechts vorgenommen. Es bleibt also dabei, dass der Zweite, nicht
mit der Entstehung des Kindesverhältnisses (Art. 252 ff. ZGB), sondern mit der
Eheschliessung (Art. 90 ff. ZGB) beginnt. Logisch schiene mir etwas anderes. Auch
liess es der Bundesrat dabei bewenden, dass das Kindesverhältnis zur Mutter und
damit auch ihr Sorgrecht nach wie vor mit der Geburt entsteht (Art. 252 Abs. 1 ZGB).
VII. Statt einer Schlussbemerkung: Die Angst der Frauen und Mütter
Weit handfestere als diese mehr ideologisch begründeten Bedenken treiben nun
aber jene Kreise um, die nicht übersehen, dass mit der vorgeschlagenen
Sorgerechtsregelung die Mütter um ihre heutige teils rechtliche, teils faktische
Vorrangstellung bei der Zuteilung des Sorgerechts gebracht werden. Damit verlieren
diese Frauen (und natürlich auch ihre Interessenvertreter) Verhandlungsmacht. In
Zukunft kann eine Mutter ihre Zustimmung zum gemeinsamen Sorgerecht nämlich
nicht mehr länger davon abhängig machen, dass der Vater im Gegenzug ihren
Vorstellungen, was den Unterhalt und die Betreuung des Kindes betrifft,
entgegenkommt.
Und nicht nur das: Die Mütter müssen sogar befürchten, dass die Väter den Spiess
umdrehen und das gemeinsame Sorgerecht ihrerseits als Druckmittel einsetzen
werden. Während diese Männer bisher möglicherweise gar nichts dagegen
einzuwenden hatten, dass sich ihre Frauen hauptsächlich um den Haushalt und die
Kinder kümmerten, können sie die Scheidung nun plötzlich zum Anlass nehmen,
diese Rollenverteilung zu hinterfragen.
Dazu kommt, dass das gemeinsame Sorgerecht rein gar nichts daran ändert, dass
attraktive Teilzeitstellen weiterhin Mangelware sind und dass Frauen immer noch
weniger als Männer verdienen. Ganz zu schweigen von der höchst zweifelhaften
gesellschaftlichen Wertschätzung der Arbeit, die für die Kindererziehung und den
Haushalt aufgewendet wird. Ich denke da unter anderem an die Tatsache, dass
dieser Elternteil zum vorneherein keinen Zugang zur 2. und 3. Säule hat.
Die Ängste der Frauen und Mütter sind also durchaus verständlich und ernst zu
nehmen. Die Frage ist bloss, ob sie auch als Argument gegen das im Vorentwurf
vorgesehene gemeinsame Sorgerecht taugen. Für den Bundesrat ist dies nicht der
Fall. Für ihn geht es beim gemeinsamen Sorgerecht eben nicht um das Wohl der
Eltern, sondern um das Wohl des Kindes. An diesem Ideal richtet er sich aus, und er
hofft, dass die vorgeschlagene Lösung schliesslich auch auf die Gesellschaft
zurückwirkt: Norma normans!
Dabei gibt sich der Bundesrat keinen Illusionen hin. Er weiss also, dass das
gemeinsame Sorgerecht keine Wunder bewirkt. Gerade die Arbeiten im
Zusammenhang mit dem NFP 52 belegen nämlich, dass weniger das rechtliche
Regime als ausserrechtliche Faktoren darüber entscheiden, wie es um das effektive
Engagement der Männer nach einer Scheidung bestellt ist.
Auch wenn also das gemeinsame Sorgerecht dereinst zum gesetzlichen Regelfall
wird, was ich hoffe: Es bleibt noch viel, sehr viel zu tun!
Die Redaktion bendankt sich an die Bundes Justiz / Herrn F. Schöbi für den Text.